6. Mai 2009 20:00 Uhr
Schöner, trauriger Balkon Europas
Tellkamps Atlantis erreicht man mit der Standseilbahn. Durch den Blick des zentralen Protagonisten seines dritten Romans „Der Turm“ (Suhrkamp) geht es hinauf in ein längst verschludertes Dresdner Villenviertel, wo sich sieben Jahre vor dem Untergang der DDR die Bildungsbourgeoisie hinter Jugendstilzäunen abschottet. Mit Hausmusik (Wagner), Lektüre (Tolstoi) und Konversation versucht man hier, den Zumutungen eines Systems zu entgehen, in dem Bildungsbürger eigentlich nicht vorgesehen sind. – Aber es gibt kein Entgehen. Mit großem Atem erzählt der aktuelle Träger des Deutschen Buchpreises vom Niedergang dieser letzten elfenbeintürmlerischen Bastion, von den Schicksalen ihrer Bewohner, die sich im Konflikt zwischen »Rotfront argumentieren« und Aufbegehren finden. Der Chronist Tellkamp zeigt sich als recording angel der späten DDR. Ganz besonders ist sein Mut für Breitwandpanoramen, in die er immer wieder bis aufs Kleinste, auf ein sandiges Lächeln oder barockes Husten, hineinzoomt. Tellkamp, der mit „Nautilus“ an einem der wichtigsten Versepen der Gegenwart schreibt und 2005 bereits im Zentrum las, wird mit der Literaturkritikerin Insa Wilke (Berlin) über jenes Vorwende-Atlantis sprechen.